Prolog
Enzos Anwesen lag in der Mittagssonne eines wunderschönen mittelamerikanischen Tages. Das Haus schien verlassen zu sein. Niemand war zu hören. Am Wegesrand des Indiotrampelpfades, der in die Berge führte, scharrte eine Hühnermutter, welche ihren zehn Küken zeigte, wie man die von den Bäumen und Sträuchern heruntergefallenen Blätter umwendete, um darunter schmackhafte Würmchen zu finden. Die Küken waren voll bei der Sache, sie nahmen es ihrer Mutter nicht übel, wenn sie bei der Vorführaktion auf die Schnelle kurz beiseite gefegt wurden und sich dabei mehrmals überschlugen. Nachdem sie sich wieder aufgerappelt hatten, stürzten sie sich wieder in das Vergnügen, und das ausgerechnet hinter den Beinen ihrer werkelnden Mutter, um kurze Zeit später wieder durch die aufgewirbelten Blätter zu rollen.
Etwas höher zum Berg, unter einem alten und verrosteten Traktor, lag ein schwarzer, großer Haufen. Scheinbar ein Hund. Nur wenn man ganz nah herangetreten wäre, hätte man sehen können, dass die Augen im Kopf des Hundes, der auf den Vorderfüßen lag, geöffnet waren. Die brauen Augen waren auf die Hühnerfamilie gerichtet. Nur manchmal zuckten die herabhängenden Ohren, wenn sich aufsässige Fliegen dort absetzen wollten. Sind diese Suppenhühner dumm! Der Blick ging nach links zur Garage. Vor dem dort abgestellten Auto lag ein brauner Hund auf der Seite und schlief. An seinen Bauch geschmiegt, hatte sich eine kleine schwarz-weiße Katze eingekringelt. Schnuffel, du solltest dir eine Hundefreundin anschaffen und keine Katze. Das ist doch nicht normal. So, oder ähnlich mussten die Gedanken des schwarzen Hundes sein, als er die Hühner und seinen Wachkameraden verdrießlich betrachtete.
Irgendwo in der Tiefe seines Körpers, so ungefähr in der Mitte seines Bauches, machte sich ein unangenehmes Gefühl breit, nachdem dieser Körperteil ungefragt einige knurrende Laute abgegeben hatte. Leicht hob er den Kopf und schaute kurz zum Haus hinüber, in der Hoffnung, Esmeralda, die Futterbesorgerin, zu sehen. Aber die schien nicht da zu sein. Aus der Ferne konnte er in den Blechnapf schauen, indem manchmal etwas Essbares landete. Der war leer. Schnuffel war schneller gewesen. Bevor er überhaupt den Napf erreicht hatte, war ihm sein Freund wieder einmal zuvorgekommen und hatte sich den Riesenknochen mit anhängenden Fleischresten geschnappt und vor Möppel in Sicherheit gebracht. Den zermanschten Reis und ein paar Gemüsereste hatte er verschlungen. Gemüse ist für einen Hund keine Art gerechter Ernährung, dachte er empört und erbittert. Zuerst wollte er Schnuffel wieder die Beute abnehmen, aber dieser hatte sich in eine enge Kiste gezwängt. Nur sein Hinterteil schaute noch heraus. Möppel hatte spontan daran gedacht, Schnuffel in den Hintern zu beißen, aber dennoch diesen Wunsch nicht befriedigt. Schnuffel war ja nicht nur sein Wachkamerad, sondern auch sein Freund und Halbbruder. Freunde beißt man ja nicht, schon gar nicht Blutsverwandte und schon gar nicht wegen eines lumpigen Knochens.
Dann schaute er die leicht abfallende Straße hinunter. Links hinter den zwei anderen Häusern, dort wo „seine“ Kaffeeplantage lag, scharrte eine weitere Hühnerfamilie im Dickicht der Begrenzungssträucher. Direkt hinter dem großen und hohen Baumstumpf, an der er seine Nachrichten an andere Hunde anbrachte, stieg die Straße wieder leicht an. Sie mündete in eine andere, größere Straße. Hier wurde auch immer das Pferd hingebracht. Diese Straße führte in die Stadt und dort wohnte auch der böse Rottweiler. Direkt an der Ecke zur größeren Straße, hatte Junior seinen kleinen Tante-Emma-Laden, in dem überwiegend die Indios einkauften. Diese hatten oftmals scharfe Macheten bei sich und setzten diese auch oftmals gegen harmlose Hunde, welche doch nur bellen wollten, ein.
Auf dem Vorplatz zur Tienda (das ist die örtliche Bezeichnung für so einen Tante-Emma-Laden) stand ein kleiner Lieferwagen mit geöffneter Hintertür. Der Fahrer war gerade dabei, Waren auszuliefern und leere Kartons zurückzubringen. Möppel glaubte, aus dieser Entfernung zwischen den Kartons etwas Essbares erblickt zu haben. Gleichzeitig wehte der Südostwind den Duft von Salchichas (das sind Würstchen) heran, was er einfach nicht ignorieren konnte.
Langsam stand er auf, schüttelte sich, sodass Staub und Haare eine kleine Wolke um seinen Körper bildeten. Danach trabte er leichten Fußes den Weg in Richtung der Kartons. Als er nur noch drei Pferdelängen (als Hund kennt Möppel keine menschlichen Maßeinheiten) entfernt war, schaute er zur offen stehenden Tür des Ladens hinüber. Junior und der Fahrer sprachen miteinander. Der Fahrer hatte Papiere in der einen Hand und in der anderen eine Salchicha, von der er abbiss. Möppel lief das Wasser im Maul zusammen. Schnell vergewisserte er sich, nicht beobachtet zu werden. Dann machte er sich ganz klein und robbte den Hang hoch. In Deckung der dort noch abgestellten Kartons konnte er sich ein wenig aufrichten. Seine Nase diente dabei als Kompass. Als sie den Karton, mit dem stärksten Duftausschlag geortet hatte, vergewisserte er sich das letzte Mal, nicht gesehen zu werden. Mit einem Satz sprang er auf die Ladefläche und landete im offenen Karton. Durch den Aufprall schlugen die oberen Kartonseiten zu. Möppel saß drin und wunderte sich über die am Boden stark riechende und klebrige Masse. Die Reste aus einer zerbrochenen Plastikdose von Reis mit Schweinefleisch. Schlapp, schlapp, schlapp. Schwups war alles aufgeleckt. Das durch einen schmalen Spalt eindringende Licht ermöglichte dem enttäuschten Hund die Orientierung. Mehr war nicht auffindbar. Langsam hob er den Kopf, drückte den Deckel ein wenig hoch und schaute mit einem Auge über den Kartonrand. Der Fahrer kam auf ihn zu, wobei er sich gerade den letzten Rest der Salchicha in den Mund steckte. Er warf noch die außen stehenden Kartons auf die Ladefläche und schloss die halbhohe Tür. Möppel hörte, wie er in einstieg, die Tür schwungvoll zuschlug und den Motor startete. Gerade als Möppel aus dem Karton klettern wollte, fuhr der Wagen an. Durch die Anfahrbewegung kippte der Karton mit seinem Inhalt um. Möppel kullerte in die hintere Ecke und landete vor ein paar Getränkekästen mit leeren Flaschen.
Über den Rand der Ladetür sah er, dass das Auto in Richtung Stadt fuhr. Juniors Tienda wurde immer kleiner. Am Haus mit der hohen Hecke mit den pickenden Sträuchern lag in der Toreinfahrt sein Feind, der Rottweiler an einer Kette und döste vor sich hin. Auch der wurde kleiner und kleiner. Nach der Kurve erschien ihm Umgebung immer fremder. Er konnte sich nicht erinnern, hier schon einmal gewesen zu sein. Furcht durchzog sein Hundeherz, welches sich krampfhaft zusammenzog. Mit Enzos Auto war er schon ein paar Mal in die Berge, zu den Gemüseplantagen, gefahren. Enzo hatte ihm beigebracht, hinten im Pick-up (das ist ein kleiner Lieferwagen aus Amerika) nicht zu stehen, sondern sich hinzulegen oder nur mit den Vorderfüßen aufzurichten. Dieses Wissen nutzte ihm jetzt. Langsam und stark wankend ging er zur hinteren Klappe, setzte sich hin und legte die Schnauze auf den Rand. So konnte er alles sehen und sich vielleicht den Rückweg einprägen. So viele Häuser, Menschen und Hunde hatte er noch nie in seinem Leben auf einmal gesehen. Es wurde ihm schwindlig bei dem Gedanken, hier leben zu müssen. Nun fuhr das Auto wieder ein wenig Berg auf. Die kleine Stadt lag hinter ihm. Der Weg ging stets leicht bergab. Als es aus irgendeinem nicht erklärbaren Grund kurz hielt, schaute er um die Ecke in Fahrtrichtung. Viele Autos waren auf dieser Straße. Vor ihm hatte auf einer großen Stange am Wegesrand jemand eine Tomaten-Lampe angebracht. Darunter war noch eine Grüne-Apfelsinen-Lampe, nur nicht ganz so hell. Ganz weit, am Ende der Straße konnte Möppel etwas großes Blaugraues sehen, dort wo der Himmel mit den weißen Federbüschen anfing. Was mochte das wohl sein? Oben, in den Bergen auf der Plantage, hatte Enzo einmal zu seiner Tochter Jessica gesagt, Jessie, das ist der Pazifik. Dort am Strand wohnt deine Tante! Dabei hatte er mit seiner Hand auf das blaugraue Ding am Horizont gewiesen. Sollte es das gleiche Wesen sein? Von weiteren unnützen Gedanken wurde er abgelenkt, als die noch grüne Apfelsine mit einem Mal hell aufleuchtete und das Auto weiter fuhr.
Möppel hatte nur ein Zeitgefühl, welches sich nach Tagesereignissen richtete, die mit dem Fressen verbunden waren. Enzo war da ganz anders. Er richtete sich nach einem runden Ding auf seinem linken Arm, manchmal nach dem Stand der Sonne und wenn es um größere Zeitabstände ging, nach der Größe seiner Tomaten und Zwiebeln oder ob die Kaffeekirschen Rot oder Grün waren. Der Hund schaute zum Himmel. Die Sonne stand fasst senkrecht. Enzo hatte dann immer gesagt, es ist Mittag. Ihm war es egal was gerade war, aber die Menschen fingen dann an etwas zu essen. Manchmal bekam er sofort etwas ab, aber meistens musste er auf die Reste warten. Zu dem Hungergefühl kam nun auch noch Durst. Was für ein armseliges Hundeleben habe ich doch, sinnierte er frustriert. Traurig schaute er in die dahin eilende Landschaft. Die Menschen hatten am Straßenrand große Schilder aufgestellt, auf denen Hausratsgegenstände abgebildet waren. Darunter waren Striche, Kreise und Zeichen, von denen Enzo einmal sagte, es sei die Schrift seiner Sprache, die er zu Hause redete. Als das Auto ein kleines braunes Schildchen mit diesen Sprachzeichen passiert hatte, bog es mit einem Male rechts ab und fuhr noch etwa drei Zeiten. Diese brauchte Enzo um eine kleine weiße Stange am Mund zu verqualmen. Dann hielt der Lieferwagen vor einer weiteren Tienda. Der Fahrer stieg aus und ging hinein. Die Luft war rein! Mit einem Satz sprang Möppel vom Wagen. Er landete unsanft auf hartem Beton. Schnell lief er zu einem Strauch und versteckte sich darunter. Das war auch richtig gewesen. Fünfzig Pferdelängen weiter spielten zwei große Hunde mit einem Menschenkind. Als diese Möppel beim Herunterspringen sahen, bellten sie laut. So schnell er konnte lief er einen schmalen Weg entlang, weg von der unbekannten Straße mit den großen Hunden. Beim Laufen stellte er fest, dass hier andere Pflanzen, Sträucher und Bäume wuchsen, die er nicht kannte. Außerdem war es viel wärmer als bei Enzo auf dem Hof.
Der Weg endete an einer großen Wiese, in deren Mitte drei komisch aussehende Bäume standen. Sie waren viel höher, als die, welche er kannte. Sie hatten einen glatten langen Stamm. Oben war keine Geästkrone, sondern nur eine größere Anzahl von sonderbaren Wedeln. Unter diesen anders aussehenden Blättern hingen größere Bälle. Sie sahen so ähnlich aus wie die, mit denen der Sohn Enzos, der dürre Paolo und seine Freunde spielten. Langsam trottete Möppel zum Baum, schaute hoch und stellte fest, er stand im wohltuenden Schatten. Schlagartig überfiel ihn zum Hunger und Durst auch noch eine starke Müdigkeit. Da ein leichter Wind einsetzte und dieser im Baum raschelnde, einschläfernde Geräusche erzeugte, beschloss er, hier eine Siesta (das ist ein kurzes Schläfchen am Nachmittag) zu halten, um danach ausgeruht und gestärkt nach Futter zu suchen. Müde legte er sich hin und schlief sofort ein. Aus seinem Schlaf wurde er jäh aufgeschreckt, als ein stärkerer Windstoß durch die Kronen der Bäume rauschte. Er schaute nach oben und sah, wie sich die Wedel im Wind bogen und der ganze Baum hin und her wankte. Oben, bei den vielen Bällen, löste sich einer und kam schnell auf ihn zu. Plauz machte es, als die Kokosnuss auf Möppels Kopf prallte. Mit einem Male war alles gellend hell und danach wurde es um Möppel dunkel.