Eine verhängnisvolle Entscheidung
Als Holt den großen Sitzungssaal des Bezirksgerichtes betrat, schien er der letzte der Gruppe zu sein. Vier Männer warteten bereits und hatten vorher offensichtlich schon etwas besprochen, was nicht für seine Ohren bestimmt war.
„Nimm Platz Genosse Holt,“ sprach der Direktor des Kreisgerichtes, den Holt persönlich bereits kannte.
Die anderen drei Männer musterten ihn unverhohlen. Am Kopf des großen, ovalen Tisches saß ein schlanker Mann mit stechend blauen Augen. Holt fröstelte unter dessen Blick.
Das muss der Direktor des Bezirksgerichtes sein, dachte er. Der kleine Dicke mir gegenüber ist wohl der Parteisekretär. Sein Pfauenauge, das im Volksmund sogenannte Parteiabzeichen der SED, am Revers des Präsent-20-Anzuges war nicht zu übersehen. Wider Erwarten sprach der Mann zu seiner linken Seite zuerst und nicht der an der Stirnseite.
„Unsere Parteigruppe am Bezirksgericht hat Großes mit dir vor Genosse Holt. In ein paar Monaten wirst du am Kreisgericht Neustrelitz als Richterassistent eingesetzt.“ Er legte eine kurze Pause ein und schaute zum Blauäugigen herüber, der zustimmend nickte. „Wir möchten, dass du bei den kommenden Richterwahlen für eine besondere Funktion kandidierst. Als Direktor des Bezirksgerichtes…“ Verdammt, wer ist der Kerl an der Stirnseite! „…habe ich mit der ALK bereits gesprochen. Diese hat unseren Vorschlag aufgegriffen. Du sollst für eine Tätigkeit in der IA-Kammer am BG kandidieren.“
Holt zuckte zusammen, was der Mann an der Stirnseite mit belustigender Befriedigung zur Kenntnis nahm. Hinter den spröden Bezeichnungen ALK und IA verbargen sich die Lenkungskommission für Absolventen der Fach- und Hochschulen in der DDR und ein altes politisches Monstrum. Bereits zur Kaiserzeit gab es eine solche Kammer, welche die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur überlebt hatte. Und diese Tradition wurde im „ersten Arbeiter- und Bauernstaat" fortgeführt, allerdings nicht unter dem Namen IA, dieser wurde nur im internen Sprachgebrauch genutzt.
Nach dem Geschäftsverteilungsplan der DDR-Gerichte wurden den IA-Kammern beziehungsweise den IA-Einzelrichtern die Straftaten nach dem Besonderen Teil, dort Abschnitt 1, Verbrechen gegen die Souveränität der Deutschen Demokratischen Republik, den Frieden, die Menschlichkeit und die Menschenrechte, Abschnitt 2, Verbrechen gegen die Deutsche Demokratische Republik, Abschnitt 7, Straftaten gegen die allgemeine Sicherheit und Abschnitt 8, Straftaten gegen die staatliche Ordnung, übertragen. Die Straftaten nach Abschnitt 9, Militärstraftaten, wurden den Militärgerichten zugeordnet. Die dicken Fälle waren meist die der Abschnitte 1 und 2 und diese wurden überwiegend vor dem Obersten Gericht der DDR verhandelt, in Einzelfällen allerdings auch vor den Bezirksgerichten.
Holt wusste, dass er am Bezirksgericht oder am Kreisgericht überwiegend Fälle nach § 213, Ungesetzlicher Grenzübertritt, § 215, Rowdytum und § 219, Ungesetzliche Verbindungsaufnahme, auf dem Tisch haben würde. Fälle, die sich auf § 150, Staatsfeindlicher Menschenhandel, wie die Fluchthilfe in der DDR genannt wurde, würde er wohl als Einzelrichter nicht verhandeln müssen. Dafür waren die Strafkammern mit drei Berufsrichtern zuständig. Wie er vermutete, würde er in den nächsten zwei Jahren nicht in so einer Kammer landen. Seine Aufgabe könnte darin bestehen, als Einzelrichter versehen mit zwei Aufpassern, den Schöffen, leichtere Fälle mit einer Freiheitsandrohung bis zu drei Jahren zu verhandeln. Schöne Aussichten, dachte er frustriert, als er sich die Struktur der DDR-Gerichte in Erinnerung rief.
Der mit dem stechenden Blick lächelte Holt unverfroren an. Er musste Holts Gedankengänge erraten haben.
„Wann soll ich kandidieren? Doch nicht schon im kommenden Oktober?"
Alle Anwesenden nickten zustimmend. Der an der Stirnseite Sitzende antwortete an Stelle des eigentlich zuständigen Bezirksgerichtsdirektors.
„Natürlich Genosse Holt. Wenn du deinen Dienst für unseren Staat im Sommer aufnimmst, hast du noch mindestens ein viertel Jahr Zeit, um dich auf die neue Aufgabe vorzubereiten. Deine Verwendung als Familienrichter oder als Assistent beim zuständigen Familienrichter ist unumgänglich. Du weißt doch, dass nach unserem Gerichtsverfassungsgesetz jeder Richter zuerst ein Jahr oder in Einzelfällen ein halbes Jahr als Assistent arbeiten muss." Holt wusste es nicht genau.
„Ja aber im Herbst ist noch nicht einmal ein halbes Jahr herum." Wieder antwortete der Mann, von dem Holt annahm, dass er zur Stasi gehörte.
„Du bist eine Ausnahme. Aus kaderpolitischen Gründen können wir bei dir die notwendige Assistentenzeit auf drei Monate verkürzen. Du stammst aus der Arbeiterklasse, bist Mitglied unserer Partei und hast drei Jahre bei den bewaffneten Organen gedient. Das Wichtigste ist jedoch, du hast eine bildungsgemäße und politische Entwicklung zurückgelegt, welche uns Respekt abgenötigt hat. Vor acht Jahren hattest du nur den Abschluss der 8. Klasse und dachtest daran, in den Westen zu gehen, um dort den Kapitalisten als Seemann zu dienen ... " Verdammt, die wissen alles! War ja auch nicht einfach, die anderen haben ja gesungen wie die Nachtigallen und die liebe Nachbarin hatte ja ständig mit dem ABV, dem Abschnittsbevollmächtigten der Deutschen Volkspolizei, den für einen bestimmten Abschnitt zuständigen Polizisten, zusammen gesessen. „...aber nun hast du das Abitur, bist unser Genosse, verheiratet, mit Wurzeln im sozialistischen Vaterland und vor dir die Aufgabe, deinem Staat als Jurist zu dienen. Das ist eine große Ehre mein lieber Genosse."
Die anderen Drei nickten wie Statisten in einem Stummfilm. Holt wurde es klar, dass „seine" Genossen ihm keinen Ausweg ließen. Entweder er fügte sich oder er würde sich nach dem Ende des Studiums, wenn es dann überhaupt ein Ende gab, als Maschinenschlosser auf einer Kolchose wiederfinden. Eine Kolchose (LPG) war die Bezeichnung aus dem Russischen für eine Land-wirtschaftliche Genossenschaft. Möglichst weit ab von jeder Grenze und der Hauptstadt, also mitten in Mecklenburg oder im Bezirk Frankfurt/Oder.
„Ich bin mir dieser großen Aufgabe bewusst“, antwortete Holt ausweichend. „Meine Bedenken waren nur, dass ich noch nicht genug Erfahrungen habe. Was geschieht, wenn ich ein falsches Strafmaß finde? Eine Ehe zu scheiden oder eben nicht, ist nicht so tragisch, aber einen Menschen für längere Zeit in den Strafvollzug ... er wollte zuerst Knast sagen ... zu bringen, das ist schwerer, da habe ich Bauchschmerzen."
Diesmal antwortete sein zukünftiger Chef.
„Am Kreisgericht werden wir dir verdiente Genossen zur Seite stellen. Dein Ausbildungs-Richter und die Schöffen. ... Übrigens du wirst schon in Neustrelitz mit Strafsachen vertraut gemacht. Der zuständige Genosse ist für längere Zeit erkrankt, du musst ihn bereits in einigen Strafsachen vertreten. Wenn er aus der Reha kommt, bist du bereits in Neubrandenburg."
An der Tür klopfte die Sekretärin des Bezirksdirektors und öffnete diese halb. Sie schob nur ihren Kopf durch die Tür und schaute auf ihren Chef.
„Der Genosse Bordantschuck ist da. Soll er reinkommen?" Der Bezirksdirektor nickte und erhob sich. Durch die sich gänzlich öffnende Tür trat ein großer, stämmiger Mann in einer sowjetischen Offiziersuniform. Der Direktor des Bezirksgerichtes ging mit hastigen Schritten auf ihn zu und gab ihm die Hand. Die linke Hand legte er vertraut auf den Unterarm des Offiziers. Dann drehte er sich um und sprach Holt direkt an.
„Darf ich dir den Genossen Jewgeni Pantelewitsch Bordantschuck vorstellen? Er ist der Kommandeur der sowjetischen Garnison in Neubrandenburg." Holt sah auf den goldfarbenen Schulterklappen drei silberne Sterne. Ist er nun Oberleutnant oder ist er ein Oberst, dachte Holt, der mit den sowjetischen Rangabzeichen nicht vollständig vertraut war. Dem Alter nach musste dieser Offizier ein Oberst sein, für einen Oberleutnant war er bereits zu alt und Kommandeur der Garnison konnte kein Oberleutnant sein. Spontan stand er auf und gab Bordantschuck ebenfalls die Hand.
„Es freut mich, Genosse Oberst, Sie kennenzulernen,“ stammelte er mit seinen spärlichen Russischkenntnissen. Der Offizier lachte nur und antwortete bereits beim Hinsetzen in gepflegtem Deutsch.
„Spare deine russischen Worte, hebe sie auf, wenn wir auf die Deutsch-Sowjetische-Freundschaft anstoßen oder gemeinsam die Faschisten verfluchen." Dabei angelte er sich ein Wasserglas vom Tisch und goss sich aus der Glaskaraffe ein. Was Holt für schnödes Wasser gehalten hatte, war tatsächlich ein Wässerchen, Wodka von der besten, klarsten Art. Die anderen Anwesenden nahmen sich auch ihre Gläser und füllten sie mit dem Wässerchen. Holt, zog schnell nach, um nicht wie unbedarft dazustehen. Der Oberst erhob sich wieder und nahm am Tisch eine Art stramme Haltung an.
„Auf unsere Freundschaft, auf unsere Parteien, auf dich Genosse." Dabei schaute er Holt an, der auch sein Glas erhob. „Druschba i na trowje!" Er trank auf die Freundschaft und die Gesundheit.
Da die Versammlung um 17 Uhr begonnen hatte, war nun allgemeiner Dienstschluss. Das bedeutete jedoch nicht, dass in den Einrichtungen von Staat und Partei in der DDR nicht auch im Dienst getrunken wurde. Im Gespräch sprach der Kreisgerichtsdirektor davon, dass der Genosse Richter, den Holt vertreten sollte, auf einer Alkoholentziehungskur sei. Er hatte offensichtlich zu oft auf die Freundschaft, die Parteien und sonst noch was angestoßen, was seiner Gesundheit nicht zuträglich gewesen war.
Bordantschuck entpuppte sich als ein geselliger und aufgeschlossener Mensch. Versteckt konnte Holt Kritik an den herrschenden Zuständen in der Sowjetunion und den Bruderstaaten heraushören. Gut getarnt und nicht all zu offen. Mehr Offenheit erlaubte er sich, wenn er Witze über die DDR und die führenden Genossen machte. Seine deutschen Freunde lachten schallend mit, verkniffen sich aber, ins gleiche Horn zu stoßen.
Die Sekretärin und eine zweite Bedienstete hatten reichlich Essen und alkoholischen Nachschub aufgetischt. Aus der Gerichtskantine schienen diese Sachen nicht zu kommen und aus der nächsten HO-Gaststätte auch nicht. Diese lag ungefähr zwei Kilometer entfernt. Als Holt von einem Toilettengang zurück kam und aus dem Fenster schaute, sah er auf dem Gerichtshof einen sowjetischen Militärlaster, neben einer ZIL-Limousine stehen. Am Kotflügel des Lasters lümmelte sich ein sowjetischer Soldat in einer weißen Ordonnanzjacke. Nur an seinem Militärkäppi war er als Soldat zu erkennen, obwohl er wie ein Steward aussah. Dieser musste die Verpflegung geliefert haben. Der letzte Zweifel wurde bei Holt ausgelöscht, als die Ordonnanz später erschien und leere Gefäße, Flaschen und Besteck abräumte und wegschaffte.
Der Alkohol zeigte bei den Tafelnden Wirkung, auch bei Holt. Der Kreisgerichtsdirektor hatte seinen Arm vertraulich über Holts Schultern gelegt. Mit schweißigem und hochrotem Gesicht flüsterte er auf Holt ein. Dieser hörte nur mit halbem Ohr zu, sodass nur bruchstückhaft Worte in sein Gedächtnis gelangten. ... wir sind dann unter uns ... uuups ... auch in Notsituationen ... Schlüssel sind beim OvD ... Bordantschuck ... feiner Kerl ... uuups ... Weiber selbst mitbringen ... aber Schnauze halten!
Von was faselte der Kreisheini? dachte Holt. Er hatte nicht alles mitbekommen. Später, als er mit dem Obersten am offenen Fenster stand und sie gemeinsam eine sowjetische Papirossa, eine russische Zigarette mit Pappmundstück, rauchten, wurde der Mann offen, als Holt nachfragte.
„Towarischtsch,“ was auf Russisch Genosse bedeutet, „wenn du mal kein Zimmer hast, kannst du im Haus der Offiziere schlafen, auch wenn du nicht alleine bist." Dabei grinste er. „Das ist nur ein Service der Sowjetarmee für verdiente Genossen und Freunde."
„Aber ich werde doch sicherlich hier in Neubrandenburg eine Wohnung bekommen und ich bin verheiratet“, antwortete Holt mit bereits schwerer Zunge. Bordantschuck lachte laut Hals.
„Du bist ein Witzbold Towarischtsch Chooolt! Alle hier wissen, dass deine Ehe im Arsch ist, nur du weißt es offenbar noch nicht." Holt war blass geworden, ihm wurde richtig schlecht. Der Offizier schlug Holt lachend auf die Schulter. „Soll ich dafür sorgen, dass der Liebhaber deiner Frau von der Marine zu den Mot-Schützen nach Erfurt versetzt wird?" Dabei lachte er immer noch und schaute in Holts entsetztes Gesicht. „Oder soll ich ihn erschießen lassen ... auf der Flucht?" Holt schüttelte nur den Kopf. „Guuut so, ich bin nämlich nicht vom KGB. Du musst deine Probleme schon alleine lösen, die Sowjetarmee löst größere Probleme." Er lachte immer noch, als er zum Tisch zurückging.