Bei Da Nang

 

In einer kleineren Vertiefung, direkt unter dem Bergkamm, lag das Lager des Vietcong. Die ersten Kisten waren mit Hilfe von elektrischen Hubkarren abgeladen worden und standen im Halbkreis auf einer Lichtung. Von den Raketenwerfern war nichts mehr zu sehen, denn die wurden bereits an die nahe Front abtransportiert.

Exakt um 6:00 Uhr brach im Tal ein Höllenlärm aus. Hans Holt hörte das Zisch Zisch Zisch der Stalinorgeln, das er bisher nur aus Kriegsfilmen kannte. Die Waffen - befördert von der Solidarität - hatten ihre Bestimmung erreicht. Im Moment töteten sie wahrscheinlich amerikanische und südvietnamesische Soldaten. Holt schauderte es.

Ein deutsch sprechender Vietnamese tauchte mit einem europäischen Mann im Schlepptau auf. Der beachtete die zwei Seeleute nicht, sondern konzentrierte sich auf eine Liste, auf der er etwas abhakte. Dann zählte er nochmals die Kisten durch, um sich dann mit dem vietnamesischen Offizier auf Russisch zu unterhalten. Der zeigte auf Klaus Freder, der an den Mann herantrat. Das folgende Gespräch wurde in Russisch geführt. Freder ließ sich schließlich seine Papiere unterzeichnen und gab zum Abschied dem Russen die Hand. Dieser legte seine Hand an den Mützenschirm und grüßte militärisch. Holt hörte nur noch „Doswidanie Towarischtschi!“

„Was war denn das?“, wollte Holt wissen.

„Das war unser Auftraggeber.“

„Was, ein einziger Mann?“

„Nein Hans, das war nicht nur ein Mann, sondern eine Armee ... die Sowjetarmee.“

„Ich kann es nicht glauben, dass die hier auch im Krieg sind. Warum fehlten bei dem die Dienstgradabzeichen?“

„Würdest du die im Feindgebiet tragen, wenn du nur als Berater tätig bist?“

„Klar Klaus, das würde mir unter Umständen den Arsch retten. In Uniform würde ich unter die Haager Landkriegsordnung fallen, also ich wäre als Kombattant und nicht als Partisan anzusehen. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man in einem Kriegsgefangenenlager landet oder vor einem Erschießungskommando steht.“

Freder lachte nur. „Wenn die Südvietnamesen uns erwischen, werden wir mit oder ohne Uniform erschossen. Wenn es die Amis sind, zerren die uns vor das internationale Fernsehen, dann werden uns unsere eigenen Leute erschießen, falls wir einmal zurück kommen sollten.“

 

*

 

Nguyen Van Due mochte die ostdeutschen Seeleute nicht. Der Jüngere war seiner Meinung nach ein Grünschnabel, der nichts von der Welt verstand und der Ältere war ihm unheimlich. Außerdem sprach er Russisch.

Nachdem die Übergabe vollzogen war, wies er den Seeleuten ein kleines Zelt als Quartier zu, das eigentlich als Krankenstation gedacht war. Im Zelt lagen vier mit Reisstroh gefüllte Säcke und auf jedem Sack zwei Decken. Zwischen den Säcken standen zwei leere, umgekippte Munitionskisten als Behelfstische. An der oberen Verstrebung hing eine Petroleumlampe. Freder schaute sich die Unterkunft skeptisch an. Er hob die Lampe aus dem Haken und beleuchtete den Strohsack und die Decken.

„Was suchst du, Klaus?", wollte Holt wissen.

Der ließ sich nicht bei der Untersuchung stören, sondern murmelte nur: „Läuse oder anderes Ungeziefer.“ Die Untersuchung fiel offensichtlich negativ aus. Abschließend schnüffelte er noch an den Decken und nickte zufrieden. „Sehr gut, sie haben alles mit Pyrethrum desinfiziert, da überlebt nicht mal ein Dinosaurier.“

Obwohl Holt müde war, stellte er das Kofferradio an, um etwas Musik zu hören. Der nahe Sender in Da Nang hatte offensichtlich seine Tätigkeit eingestellt, denn nur das Rauschen des Äthers war zu hören. Er drehte an der Skala, bis ein weiterer Sender zu hören war. Kein AFN, sondern ein vietnamesischer und bis auf ein paar Ortsbezeichnungen wie Saigon, Hue und Da Nang, verstanden sie kein Wort. Dann ertönte traditionelle, vietnamesische Musik, traurig und schwer, schien sie Holt. Der Bootsmann schaute sich noch einmal die inoffiziellen Ladepapiere an. Der Gefechtslärm war inzwischen verstummt. Entweder hatte eine Partei gewonnen oder beide waren zu müde, um weiterzukämpfen. Holt konnte nicht einschlafen. Er zog seine Schuhe wieder an und trat aus dem Zelt. Zur linken, wo die großen Kisten abgeladen worden waren, sah er im Grau der Dunkelheit noch verschwommen mehrere Männer bei der Arbeit. Womit sie sich beschäftigten, konnte er aus dieser Entfernung nicht erkennen. Als er jedoch näher treten wollte, tauchte ein Wachposten aus der Dunkelheit auf und richtete sein Gewehr auf Holt und rief ihm etwas auf Vietnamesisch zu. Holt hob schnell die Hände und rief ihm in seiner Muttersprache zu, dass er Seemann sei. Der Posten ließ die Waffe sinken. Hinter ihm stand mit einem Mal Freder.

„Bist du verrückt, mitten in der Nacht in Frontnähe im Gelände herumzulaufen?“

„Ich musste mal pinkeln. Warum ist der Kerl denn so nervös?“

„Du stellst wirklich blöde Fragen. Warst du nicht beim Militär? Der handelt auf Befehl und die Wahrscheinlichkeit, dass die Amis oder die Südvietnamesen eine Spezialeinheit losgeschickt haben, um uns in den Arsch zu treten, ist extrem groß. Los, leg dich wieder hin, morgen müssen wir früh raus.“

 

Am nächsten Morgen wurden sie noch vor Anbruch der Helligkeit von Nguyen geweckt. Im Lager herrschte schon reges Leben. Dicht neben ihrem Zelt entdeckte Holt eine große Holzscheibe, die als Tisch diente. Davor standen vier Klappstühle, auf denen schon Freder und der Vietnamese saßen. Ein Vietcong stellte drei Blechschüsseln mit Essen auf den Tisch, dazu eine ausgehöhlte Kürbisflasche mit Wasser. Das war das Frühstück. Ein weiterer Mann erschien und erstattete Nguyen Meldung. Dieser schien überrascht und ärgerlich zu sein.

„Ihr müsst noch bis zur Helligkeit warten, ehe ihr zurückgehen könnt. Wir haben zurzeit kein Auto oder Ochsenkarren frei. Alles wird an der Front dringend benötigt. Zur Not müsst ihr die zwanzig Kilometer zu Fuß gehen.“ Dann drehte er sich um, stand auf und entfernte sich in Richtung des Kistenstapels.

 

Langsam setzte die Morgendämmerung ein. Holt konnte die ersten Konturen des Gebildes erkennen, dass die Russen in der Nacht zusammengeschraubt hatten. Es schien eine Art Radarstation oder ein Lenkleitstand für Raketen zu sein. Neben den vier Russen arbeiteten nun auch ungefähr zwanzig Vietcong an der neuen Technik. Im Radio erklang wieder vietnamesische Volksmusik, bis diese durch ein fremdes, ungewohntes Geräusch übertönt wurde, das aus den Wolken zu kommen schien: Wummm Wummm Wummm. Das klang ähnlich wie ein übersteuerter Bass an einer Musikanlage. Holt schaute in die Höhe und sah zu seinem Erschrecken zwischen den Baumgipfeln zwei Hubschrauber auftauchen. Dicht neben deren Landekufen sah er zwei dunkle Kanister, aus denen sich jeweils zwei schwarze Punkte lösten, die schnell näher kamen und größer wurden. Instinktiv warfen sich Freder und Holt in eine kleine Vertiefung zwischen den Büschen. Über Ihnen rauschte es und dann brach ein Ohren betäubender Lärm los. Zwischen den Explosionen hörte Holt, trotz der zugehaltenen Ohren, ein Prasseln und den Schmerzensschrei eines Menschen. Er schaute zwischen den Sträuchern nach oben. Die Hubschrauber standen jetzt direkt über ihm. Aus jeweils zwei schweren Maschinengewehren feuerten sie auf alles, was sich bewegte. Die Seitentüren waren geöffnet und auch aus diesen wurde geschossen. Langsam setzte die Gegenwehr der Vietcong ein. Holt konnte die Funken der Einschläge an den Hubschraubern erkennen, die langsam abdrehten und dann schnell hinter den Baumwipfeln verschwanden. Beim Abdrehen erkannte er die taktischen Zahlen DNAB 20/3 und das Zeichen der amerikanischen Luftwaffe.

Benommen und noch fast taub stand er auf und schaute sich um. Überall auf dem Platz lagen Tote oder schwer Verwundete. So viele Tote hatte Holt noch nie in seinem Leben gesehen. Neben ihm stand Freder, an dessen Hosenbein lief Blut herunter. Kurz darauf ließ der die Hose fallen, drehte sich nach hinten um und versuchte, die Fleischwunde an seinem Gesäß zu begutachten. „Im Krieg wäre das nun ein sogenannter Heimatschuss“, stellte er lakonisch fest. „Da in der Kiste ist Verbandszeug, wickle mir eine Binde drum und dann lass uns schnell verschwinden, bevor die Infanterie kommt.“

Wie aus dem Boden geschossen stand Nguyen vor ihnen. Auch er schien verwundet zu sein, denn überall an seiner schwarzen Uniform zeichneten sich hellere Blutflecken ab. Er winkte einen Vietcong zu sich, erteilte einen Befehl und wandte sich dann an die beiden Deutschen. „Wir müssen hier schleunigst verschwinden. Unsere Feinde sind auf ganzer Front zum Gegenangriff angetreten. In weniger als einer halben Stunde wird es hier von Feinden wimmeln. Zusammen mit meinen überlebenden Leuten werden wir uns in Richtung der laotischen Grenze absetzen.“

„Was ist mit unserem Schiff geschehen?“, wollte Freder wissen.

„Das weiß ich nicht, Bootsmann“, antwortete der Offizier wahrheitsgemäß. „Es wird sich sicherlich bereits auf hoher See befinden, oder sich in der kommenden Nacht in Richtung Nord entfernen.“

„Und wie kommen wir an Bord?“

„Ich nehme an, ihr werdet erst einmal auf dem Landweg in Richtung Norden gehen und dann irgendwo an der Küste aufgenommen werden ... oder auch nicht. In fünf Minuten brechen wir auf. Ich muss mich noch um meine Leute kümmern und den für mich bestimmten Befehl abwarten.“

 

Holt fand weder sein Radio noch den Tisch wieder, auf dem es gestanden hatte. Anstelle dessen befand sich dort ein Granattrichter. Ein Fluch entfuhr ihm, immerhin hatte er für das kleine Radio einmal sechzig Mark bezahlen müssen. Im Zelt waren die Strohsäcke zerschossen worden, selbst seine Jacke hatte ein Einschussloch im Rücken. Schnell ergriff er noch eine Kürbisflasche mit Wasser und ein getrocknetes Stück Fleisch, welches sich der Bootsmann am Abend besorgt haben musste. Draußen warteten schon neun Mann und Nguyen. Zusammen waren sie das Dreckige Dutzend, wie Freder spottete. Tatsächlich hatte keiner der Männer noch eine saubere Uniform an. Alle waren mit Erde oder Blut und anderen Körperflüssigkeiten verschmiert. Über dem Berghang kamen Mörsergranaten geflogen, die ungefähr dreihundert Meter weiter einschlugen. Das war das Aufbruchssignal. Die Gruppe setzte sich in Richtung West im Eilschritt in Bewegung.

Nach drei Stunden Laufschritt, manchmal auch Kriechen durch das Unterholz, ließ Nguyen die Gruppe halten. Freder und Holt waren total erschöpft, den Vietcongs schien der Gewaltmarsch nicht zuzusetzen, obwohl jeder eine Kalaschnikow, Munition und andere Ausrüstungsgegenstände bei sich trug.

„Wir sind wie die Hühner vorm Fuchs weggerannt“, stellte Freder fest. „So eine Scheiße, wir hätten wenigstens Verpflegung und Wasser mitnehmen sollen oder eine Knarre zur Selbstverteidigung.“ Nguyen hatte zugehört. Er schüttelte nur den Kopf, bevor er darauf antwortete.

„Für eure Verpflegung sorgen wir. Auf dem Weg zum Pfad befinden sich mehrere Stützpunkte und Versorgungsdepots. Das mit den Waffen solltet ihr euch überlegen. Der Stab hat uns verboten, euch Waffen auszuhändigen. Ihr seid Zivilisten und das sollt ihr auch bleiben."