Die Anweisung

Der Mann hatte seinen weißen Arztkittel nicht ganz geschlossen. Man konnte an den Kragenspiegeln der feldgrauen Uniform die Arabeske eines Generals sehen. Er schaute böse auf den vor ihm sitzenden jungen Zivilisten.

„Du brauchst nicht so blöde grinsen“, schnauzte er den jungen Mann an. „Ich habe es mit deiner Mutter abgesprochen, du studierst Medizin und damit Basta oder ich sorge dafür dass du bei deinem Onkel auf der LPG Traktor fährst.“ Der General war vor Wut rot im Gesicht geworden und an den Schläfen hämmerte das Blut in der Vene.

„Du bist mir ein guter Vater. Jahrelang hast du uns gepredigt, wir würden zu selbstbewussten, sozialistischen Persönlichkeiten erzogen werden, die … „ Der Vater unterbrach ihn.

„Ja zu Persönlichkeiten, die dem sozialistischen Wohl ihres Vaterlandes den Vorrang geben und nicht ihren kleinlichen, spießbürgerlichen Interessen. Du willst Rockmusiker werden! Dass ich nicht lache, du bist wie ich, unmusikalisch wie ein Brot.“ Dabei lachte er sarkastisch. Sein Sohn wand sich im Sessel wie ein gequältes Tier. Auch er wurde wütend.

„Papa, ich liebe diese Musik!“

„Quatsch! Das qualifiziert dich noch lange nicht diesen dekadenten, westlichen Unrat selbst zu produzieren.“ Der General war aufgestanden und er ging vor dem langen Bücherschrank hin und her.

„Du hast doch als junger Mann auch moderne Musik geliebt?“

„Ja, natürlich aber zu meiner Zeit war es Marschmusik und in Heidelberg. Beim Studium habe ich mit meinen Kommilitonen bei einem schönen Becher Rheinwein Volksmusik gehört.“

„Ja, ja, Die Reihen fest geschlossen und Warum ist es am Rhein so schön.“ Der Vater blieb stehen und schaute nun seinen Sohn vorwurfsvoll an.

„Josef, ich war kein Nazi und auch kein weinseliger Student. Die Zeiten waren damals anders. Mein Vater, der ja auch Arzt war, hatte darauf bestanden dass ich Medizin studiere. Das war eine weise Entscheidung und ich habe diese nicht wie du angezweifelt.“

„Aber Papa, ich kann doch kein Blut sehen! Ich interessiere mich doch überhaupt nicht dafür und im Krankenhaus stinkt es immer nach Lysol dass mir schlecht wird.“

„Was bist du für ein Weichei? Deine Schwester will auch Medizin studieren … und das mit dem Blut nicht sehen zu können, gibt sich mit der Zeit. Ich rieche das Desinfektionsmittel schon gar nicht mehr.“

„Olga will Tiermedizin studieren!“

„Wo ist da der Unterschied? Der Tiermediziner, wie auch der Humanmediziner, kümmert sich um kranke Lebewesen. Gut, sie sind anatomisch ein wenig anders und sie können nicht denken … aber Schmerz leiden sie so wie wir.“ Er machte eine Pause. „Wir sehen uns nach dem Mittagessen das Lazarett an … ich habe bereits mit dem Dekan der Medizinischen Fakultät der Humboldt-Universität gesprochen. Ab September wirst du dort Medizin studieren!“ Der Sohn konnte sich eine Spitze nicht verkneifen.

„Wenn ich schon Medizin studieren MUSS, dann wie du in Heidelberg!“ Der General war bei diesen Worten bleich im Gesicht geworden. Über die Schulter schaute er zur geschlossenen Bürotür.

„Du bist wohl verrückt geworden? Willst du wirklich beim Klassenfeind studieren? Willst du dein sozialistisches Vaterland verraten und uns ins Unglück stürzen?“ Der Sohn hatte bemerkt dass er wohl etwas überzogen hatte. Schnell lenkte er ein.

„Papa, entschuldige das war doch nur ein blöder Scherz.“ Der Ge­neral hatte die Fassung wieder gewonnen.

„Solche Scherze macht man nicht!“

 

*

 

Nach dem Mittagessen in der Offiziersmesse des Lazaretts durfte sich Josef den medizinischen Betrieb ansehen. Der Vater hatte seinem Besuch einen kompetenten Arzt zur Seite gestellt der den Rundgang mit seinem Sohn durchführte. Er musste diesem wohl befohlen haben, seinen Sohn positiv zu beeinflussen und die Tätigkeit eines Militärarztes von seiner besten Seite heraus zu stellen. Er merkte jedoch die Richtung der Beeinflussung und konnte darüber nur lächeln. Mein Vater gibt wirklich nicht auf, dachte er. Was der sich in den Kopf gesetzt hat wird auch so durchgezogen. Meine Mitgliedschaft bei den Jungen Pionieren, später in der FDJ und nun auch noch in der SED. Wann hört er auf sich immer in mein Leben einzumischen?

 

Den Sommer nutzte Josef mit Freunden auf die Insel Rügen zu fahren. Auf einem Campingplatz bei Binz wollten sie die letzten unbeschwerten Wochen verbringen. Das Abitur wurde Ende Juli ausgehändigt aber davor gab es noch mächtig Krach. Als der General vier Wochen vorher erfahren hatte dass sein Sohn im Fach Staatsbürgerkunde nur eine „3“ bekommen sollte, hatte er ihn zum „Rapport“ bestellt und in Anwesenheit der Mutter sowie der Schwester „zur Sau“ gemacht. Josef machte jedoch geltend in diesem Fach stets konstruktiv mitgearbeitet zu haben. Diese Art der Mitarbeit hatte dem Lehrer jedoch wohl nicht behagt.

„Der Bollmann ist ein reaktionärer Stalinist. Man kann bei dem seine Meinung nicht sagen … und ...“

„Wer ist Bollmann?“, unterbrach der General.

„Na, der Rotlichtbestrahler.“ Die Mutter lächelte und Olga lachte laut auf was den Vater noch ärgerlicher machte.

„Wenn du mit dieser Einstellung in den Unterricht gehst musst du dich nicht wundern. Wie kannst du einen verdienten Genossen unserer Partei für einen reaktionären Stalinisten halten?“ Er schüttelte missbilligend den Kopf. „Erzähl mir Einzelheiten. Wieso hast du gerade im Fach Staatsbürgerkunde so schlecht abgeschnitten. In den anderen Fächern stehst du überall auf „1“.

Josef listete die verschiedenen Kontroversen mit Bollmann akribisch auf. Es fing damit an dass der Lehrer sich kurz nach Anfang des Schuljahres über seinen Vornamen amüsierte hatte als er sich die Vornamen seiner Schüler einprägen wollte. Josef, wie der Genosse Stalin. Josef hatte spontan geantwortet: Nein, wie Josef, der Vater von Jesus. Darauf antwortete er nur dass die Maria dem Josef wohl nur Hörner aufgesetzt habe und ein anderer Jesus Vater gewesen wäre. Obwohl Josef zu Hause nicht religiös erzogen worden war, hatte er dem Lehrer geantwortet, er solle nicht die Gefühle der Christen mit seiner höhnischen Antwort verletzten. Seitdem gab es keinen Tag mehr an dem er nicht mit Bollmann zusammen geriet. Es endete im Mai mit einer Klassenarbeit zum Thema Klassenfeindschaft. Es wurde erwartet  dass sich die Abiturienten zum Hass auf den Kapitalismus bekannten. Josef allerdings tat dem Lehrer diesen Gefallen nicht. Er hatte den Kapitalismus zwar als herzlose und ausbeuterische Gesellschaftsordnung beschrieben, dem sei jedoch nicht mit Hass sondern mit der vorbildlichen Wirkung des Sozialismus beizukommen. Im weiteren Verlauf seiner Abiturarbeit schrieb er noch dass diese Vorbildfunktion in der DDR oft nicht zu erkennen sei und das es am Wesen der Bürger läge, die noch nicht den Weg vom „Ich“ zum „Wir“ gegangen wären.

Nach diesem Gespräch begab sich der General einen Tag später in voller Montur zur Erweiterten Oberschule und in Anwesenheit des Direktors setzte er sich mit dem Staatsbürgerkundelehrer zusammen. Es muss eine sehr einseitige Gesprächsrunde gewesen sein. Jedenfalls hatte Josef auf dem Abiturzeugnis im Fach Staatsbürgerkunde die Note „2“ erhalten und damit war der Zugang zur Universität für ihn offen.

 

*

 

Es gab noch einen Zwischenfall politischer Natur. In Binz war Josef mit seinen zwei Freunden noch nach Anbruch der Dunkelheit baden gewesen und sie nahmen auch ihre Luftmatratzen mit zum Strand. Bei Vollmond hatten sie sich auf den Luftmatratzen treiben lassen und sich gegenseitig mit Wasser bespritzt. Dabei waren sie nicht leise und  erregten die Aufmerksamkeit einer Polizeistreife. Diese hatte vom Ufer aus gebrüllt, sie sollten sofort aus dem Wasser kommen. Die jungen Leute lachten allerdings nur und waren der Aufforderung nicht gefolgt. Erst als ein Polizist einen Warnschuss in die nächtliche Dunkelheit jagte erkannten sie den Ernst der Sache. Am Strand legte man ihnen sofort Handschellen an und die Luftmatratzen konfiszierte man als Beweismittel. Mit einem Barkas wurden sie noch in der Nacht nach Bergen zur Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit gefahren. Die Volkspolizei hatte als Haftgrund Vorbereitung zum ungesetzlichen Grenzübertritt angegeben und dafür war die Stasi in Bergen zuständig.

 

Kurz vor Mittag konnten die drei jungen Männer jedoch wieder entlassen werden. Bei der Feststellung ihrer Personalien wurde bekannt dass Josefs Vater General und der Vater des anderen Jungen Mitglied des Zentralkomitees der SED war. Das war selbst der Stasi zu heiß. Josef durfte seinen Vater in Bad Saarow anrufen und fünf Stunden später stand vor der Kreisdienststelle des MfS ein Sankra des Lazaretts, der die Übeltäter abholte. Somit waren die letzten Ferien zu Ende bevor sie richtig angefangen hatten.